Eine Projektidee ist rasch geboren, aufgeschrieben und im besten aller Fälle findet man Unterstützer auf dem Weg zur Realisierung. In der Praxis sieht vieles dann meist ganz anders aus. „Under the Bridge“, ein Projekt, das sich mit der Obdachlosigkeit und individuellen Entwurzelung entlang der Donau beschäftigt, nahm Fahrt auf, da wurde der Strom der Flüchtlinge immer gewaltiger. Ich musste hinterfragen, ob mein Projekt in einer solchen Situation, weltpolitisch wie emotional, noch eine wie auch immer geartete Relevanz haben würde.
Ich musste es selbst erfahren – im wahrsten Sinne des Wortes. Passau, Linz, Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad. Niemand hat dort auf mich gewartet. Zunächst gingen nur wenige Türen von Hilfsorganisationen und kirchlichen wie städtischen Einrichtungen auf. Ich hatte die Skepsis derer, die kontinuierlich und vertrauensvoll mit Obdachlosen arbeiten, unterschätzt, auch meine Selbstzweifel und die verbrannte Erde, die an vielen Orten durch reißerische Berichterstattung und selten hinterfragte Newsflashs entstanden ist. Ich musste also zunächst Vertrauensarbeit leisten, erklären und noch einmal erklären, dass es mir in den Fotografien und Texten nicht um die Oberfläche geht, sondern um eine Schicht darunter, wenn nicht sogar noch eine Spur tiefer.
Und ja – ich konnte erfahrene Sozialarbeiter und -netzwerker von meinem Projekt überzeugen, konnte den Fuß aus der Tür nehmen, die sich immer weiter öffnete. Und so war ich tagsüber und auch in etlichen Nächten mit Streetworkern, aber auch mit Obdachlosen selbst, an Plätzen unterwegs, die den dort Lebenden zur Zuflucht und Heimat geworden sind – Parks, Abbruchhäuser, nahezu zerfallene Garagen, aus Recyclingresten zusammengeklopfte Hütten, notdürftige Überdachungen… Ich wurde eingeladen in eine brüchige Welt, durfte intensive Gespräche führen, die mich oftmals schlaflos machten, eine Nebenwelt kennenlernen, die deutlich vielfältiger ist, als die Clochard-Klischees vermuten lassen, bewegte mich zwischen tiefer Melancholie und ausgelassener Heiterkeit. Und ich durfte fotografieren – durfte sie fotografieren.
Ich habe sie getroffen, die Junkies, die vielleicht noch ein Jahr zu leben haben, die Obdachlosen, die Jahrzehnte im selben Park verbringen und dort nicht mehr weggehen werden, die Träumer und die Desillusionierten, die Gezeichneten und die überraschend vitalen Bewohner des Komfortzonen-Rands. Und auch hier ging es in erster Linie um Zeit, ums Zuhören, sich öffnen, das sensible Nachhaken und Eindringen in diese fremde Dritte und Vierte Welt, die es auch in unserem reichen Europa an so vielen Orten gibt. Gespräche mit Händen und Füßen, Englisch sprechenden Streetworkern, deutschen Brocken aus einer Vergangenheit, die nicht mehr wahr sein will – so bildete sich der erste Teil eines Mosaiks, das beim Internationalen Donaufest Ulm/Neu-Ulm erstmals zu sehen und erfahren sein wird, und in den kommenden Jahren noch weiter wachsen soll.
Zwei bis drei Stunden, bisweilen zwei oder drei Tage für ein Foto – keine Seltenheit. Nicht etwa wegen der Motivsuche oder des schwierigen Einleuchtens. Vielmehr ging es darum, dass die obdachlosen Gesprächspartner spürbar bereit für ein Foto waren, sich öffnen und einen authentischen Blick in ihre Gesichter oder in ihr „Zuhause“ zulassen wollten. Keines der Bilder von „Under the Bridge“, auf dem Gesichter erkennbar zu sehen sind, ist ohne Einwilligung der Fotografierten entstanden und hinter fast jedem Bild steckt eine Geschichte. Genau deshalb ist „Under the Bridge“ für mich längst mehr als nur ein Projekt. Ich habe mich durch die Begegnungen verändert – menschlich wie auch fotografisch. Und das ist mehr, als ich jemals erwarten durfte.
Udo Eberl
PS: Für November ist eine „Under the Bridge“-Ausstellung in Gotha in Planung.
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