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Gedanken falten (Novelle / Leseprobe)

Er quält sich durch die in dunklem Blau gestrichene, metallene Gartentür hindurch, die den Flugrost in den Scharnieren anzuziehen und erbitterten Widerstand zu leisten scheint. Der über Jahre hinweg vernachlässigte kletterrosenlose Rankbogen, der einst das stilvoll naturelle Entrée des Grundstücks für rückwärtig orientierte Gäste sein sollte, rahmt ihn ein. Bärenhaft gewichtig tatzt er erdbebend über die grau getönten, unterschiedlich abgesenkten und teils in Schräglage geratenen Waschbetonplatten. Ein trostloser Pfad zwischen den im Spätherbst umgegrabenen und traurige Ackerstimmung verbreitenden Beeten, der auf direktem Weg zum Haus führt. Die aufgeräumte Natur lässt pedantische Sorgfalt vermuten, den Trieb des einäugigen Kleingärtners, dessen Sympathie in seinem kleinen Reich vornehmlich der Landwirtschaft gilt. Das fassende Ambiente und dessen langsamen Zerfall scheint er auszublenden.

Durch diese gebrochene Ordnung bewegt sich der Mann verdichtenden Schrittes. Fraglos kein Stromzählerableser der städtischen Werke, der erstmals auf dem Dienstgang in diesem Viertel den Hinter- mit dem Haupteingang verwechselt hat und sich gleich nach dem Öffnen der Hintertür dafür entschuldigen wird, dass er mit dieser ins Haus fällt. Kein neuer Nachbar, der dem Hausbesitzer mit einer spontan geplanten Sympathie-Offensive samt selbst eingekochtem Quittengelée eine Horde kleiner Kinder inklusive der erst vor drei Monaten geborenen, völlig pflegeleichten Zwillinge und ein die Grünfläche ausfüllendes Gartentrampolin schmackhaft machen will. Auch nicht der Gefrierkostvertreter, der eisigen Fisch oder im Sommer handverlesene und dann schockgefrostete Himbeeren, die nach dem Auftauen garantiert nicht matschig sein werden, es dann aber doch sind, durch die Hintertüre offerieren wird.

Es ist ein schwerer Mann im ebenso schweren dunkelgrünen, bis zu den Knien reichenden Ledermantel, weniger Athlet als Koloss. Einer, der den Boden mit seinem schwergewichtigen Auftritt zum Vibrieren bringt. Wären da nicht diese seltsam dünnen, fast schon grazilen Waden, die man durchs Beinkleid erahnen kann und die nicht zur voluminösen Erscheinung passen wollen, müsste er im durch und durch feuchten Garten wohl eine erdige Furche hinter sich herziehen und die Gartenplatten begradigen oder in noch stärkere Schräglage bringen. Die zu bauernhaften Backen aufgepumpten Wangen, in denen sich das blutdurchströmte Rot ganz und gar asymmetrisch verteilt, und das verdoppelte Doppelkinn bestärken den Verdacht, dass hier jemand nicht allein mit seinen überflüssigen Pfunden, sondern zudem mit deutlich überschrittenen Grenzwerten zu kämpfen hat.

Dieser Fall für den Arzt orientiert sich zielstrebig in Richtung Terrasse und lässt sich auf einem robusten Gartenstuhl aus Teakholz nieder. Die Sitzgelegenheit ist ein Beweis für die Fehleinschätzung des Besitzers die Entwicklung der spätwinterlichen Temperaturen und die jahreszeitbedingte Sonnenscheindauer betreffend. Er wurde fraglos zu früh aus dem Keller geholt und dies, ohne daß ein Gedanke an den Auftrag einer schützenden Lasur verschwendet worden wäre. Für den Besucher scheint er wie gemacht.

Mir, der ihn noch nie gesehen hat und ihn verwundert durch das Küchenfenster anblickt, schenkt er ein zwar müdes, aber als durchaus freundlich zu verstehendes Lächeln, welches sich kurz zum breiten Grinsen eines Tubaspielers auswächst. Er gähnt beherzt genussvoll, schaut noch einmal zu mir herüber, dann zu dem für ihn von der Terrasse aus einsichtbaren Teil des Gartens, in dem sich traurig blattlose und zur eigenen Mitte hin gestutzte Johannisbeersträucher über einen brachen Streifen entlang des alle drei Monate nachgespannten Gartenzauns ducken, dann schläft er ein.

Ich stehe wie versteinert hinter gedoppeltem Glas, mit gerade dem Abstand, der mir zumindest ein wenig Gefühl von Sicherheit geben kann. Bisweilen verirrt sich im Herbst ein Eichhörnchen mit seinen lustig spitzen Ohren auf der Suche nach Wintervorrat vor dem Haus und verbreitet geschäftige Nervosität. Vögel jedweder Größe, deren Namen mich nicht interessieren, picken optimistisch und retten sich hysterisch flatternd in die Heckenverästelungen, wenn ich ein Fenster oder die Türe zum Garten öffne, obgleich sie mein Desinteresse längst akzeptiert haben sollten.

Ja, es streunen bisweilen die Katzen der nahen und entfernteren Nachbarn über das Grundstück. Dann miauen und maunzen sie, als habe sich unter ihnen herumgesprochen, dass es bei mir stets einen guten Snack nebenbei geben würde. Doch sie provozieren mit ihrer selbstverliebt wirkenden, geschmeidigen Bewegung, durch mich, die Ungelenke, mit einem gehässigen Dschhhh, Dschhhh in die Flucht geschlagen zu werden. In Sommernächten rächen sie sich für diese meine kalte Schulter mit spitzem Fauchen oder dem jämmerlichen Heulen von Kleinkindern, die in meinem Garten verlassen und verloren durch meinen Garten krabbeln und vergeblich nach Mutters Nippeln, dem Schnuller oder der Hoffnung fürs Leben suchen zu scheinen.

Auch der eine oder andere Hund hat sich bereits bis vor die weiß gestrichenen Holzflügeltüren, durch die man direkt ins Wohnzimmer gelangt, gewagt oder gar die feuchte Schnauze ein paar Zentimeter ins Haus hineingeschoben, um dann von einem spitzen Pfiff oder einem herrischen Ruf ferngelenkt genauso rasch wieder zu verschwinden. Ein Fremder hat sich nie auf die Terrasse odermgar ins Haus verirrt.

Dar Mann schläft. Zutiefst in sich versunken, das ausgeprägte Doppelkinn auf dem rechten, speckig anmutenden Lederkragen aufgesetzt und den großen Kopf in einer demütigen Haltung, die man diesem fleischgewordenen Riesen nicht abkaufen will. Seine Hände hat er in auffallender Symmetrie auf den Lehnen des Stuhls abgelegt und die Beine im abgezirkelt wirkenden 90-Grad-Winkel aufgestellt. Ein statisches Experiment könnte jetzt durchaus reizvoll sein, temporäre Körperstarre vorausgesetzt. Einfach den Stuhl nach hinten ziehen und erleben was passiert. Da sitzt er. Eine Skulptur auf Teak. Der Mann atmet ruhig. So ruhig, daß er die komatöse Gewissheit verbreitet, ein Weckversuch müsse zum Scheitern verurteilt sein.

Bitte verlassen sie umgehend mein Grundstück, könnte ich mit herrischem Unterton fordern. Bitte gehen sie, ansonsten bin ich gezwungen, die Ordnungshüter zu verständigen, würde ich der Dringlichkeit meines Anliegens mit höflicher Souveränität Nachdruck verleihen können. Dies ist mein Haus, ich genieße hier meinen Frieden, den sie gerade brechen, könnte ich mit zitternder Stimme hinzufügen. All das wird ihn nicht kümmern. Ich vermute es nicht nur, ich weiß es. Der Erschöpfte ist dem Tode fühlbar näher als dem Leben.

Vielleicht sollte ich ihm einen starken Mokka unter die Nase halten? Oder doch lieber einen Schnaps? Den müsste ich erst kaufen. Vorne im kleinen Laden, zwei Querstraßen entfernt, bei Tante Emma, die jetzt Onkel Bülent ist. Der sieht so aus, als habe er sich seinen schwarzen Schnurrbart angeklebt. Dafür ist er weniger launisch als Emma, die sich an schlechten Tagen beharrlich weigerte, die Wurst dünner zu schneiden oder große Geldscheine anzunehmen. Und er hat vor vielen Jahren abendliche Ladenschlusszeiten, die von großen Supermärkten erst deutlich später eingeführt wurden, bereits vorweggenommen. So, als langweile ihn das heimische Leben nach der Abrechnung. Hinter dem Tresen ist seine Welt und zwischen den Salat- und Tomatenkisten. Hinten im Nebenraum, der zugleich Lager und Büro ist, rollt er den kleinen Teppich aus und betet in

Richtung Mekka und Keller, dankbar, aber niemals gänzlich versunken. Wenn er seinen Teppich wieder pfleglich zusammengerollt hat, versorgt er seine Kunden auch mit Hochprozentigem. Jedem sein Leben und seine Leber scheint er zu denken und lächelt nachsichtig, soweit das hinter dem Klischee eines Bartes zu erkennen ist.

Der Mann schläft. Geradezu meditativ in sich ruhend mit der entfremdeten Gelassenheit des Esoterikers, so erschöpft, dass er nur im auswärtigen Schlaf den Weg zur eigenen inneren Mitte antreten konnte.

Wo auch immer der zentrale und goldene Schnittpunkt im menschlichen Körper liegen mag. Meine Mutter würde mit zarter Geste auf ihr Sonnengeflecht deuten, mein Vater seine Hand breitflächig auf den Bauch zwischen Herz und Leber legen, den Druck leicht erhöhen, um der Milz ein wenig näher zu sein und tief durchatmen. Ich würde mir mit zwei Zeigefingern über die Stirn streifen und die Falten nachzeichnen. Dieser Mann da draußen hat seine Mitte am Arsch.

Was kann ihn zu mir in den Garten geführt, ihn genötigt haben, vom rückseitigen Weg durch das wie meist unverschlossene Tor ausgerechnet auf mein Grundstück einzubiegen? Mir ist unwohl beim Gedanken, einen mir Unbekannten nur durch die Mauer und Doppelglas getrennt auf meiner Terrasse sitzen zu wissen, und das ist noch stark untertrieben. Ich spüre Panik in mir aufsteigen, eine vibrierende Hilflosigkeit.

Jeden Moment wird er aufwachen, mit zurückgewonnener Energie und gerade noch vom Schlaf verhüllter Aggression die Tür eintreten, mit seinen klobigen Stiefeln, die nicht solche eines fröhlich pfeifenden Wandersmannes sind. Dick und profiliert besohlte Tottreter, schweres Schuhwerk für böse Menschen. Ich höre Holz bersten, sehe Glas splittern und Regale fallen, geliebte Ordnung in Auflösung.

Ruhig Blut, denke ich. Noch riechst du seine skrupellose Bösartigkeit nicht, seinen kriminellen Schweiß. Da ist das Mauerwerk vor. Bereits ein Fenster in Kippstellung würde mich erzittern lassen.

Der Mann schläft. Selbst die Spatzen tanzen furchtlos auf den Holzplanken vor ihm herum, als habe ein Spediteur die jüngst erworbene Skulptur des schweren Schlafenden auf der Terrasse für immer und ewig auf diesem Platz abgestellt. Der sichtbare Atem des Ledermannes scheint die übernervösen Piepmätze nicht zu stören. Strahlt der Mann vielleicht doch so etwas wiemWärme oder gar Freundlichkeit aus? Oder spüren sie eine ihn lähmende Unterkühlung, die ihn wie ein Insekt beim ersten harten Frost an der Stelle hält? >>>

Veröffentlicht in Romane

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