Interview mit Sophie Hunger zum Album „Halluzinationen“
Die in Berlin lebende Schweizer Musikerin Sophie Hunger zählt seit vielen Jahren zu den international spannendsten Songwriterinnen, da sie sich stets neu erfindet und entdeckt. Während auf dem letzten Album „Molecules“ analoge Synthesizer eine wichtige Rolle spielten, ist sie auf dem neuen Album „Halluzinationen“ in der perfekten Balance zwischen der Folksängerin und der von anspruchsvollen Indie- und Elektronik-Sounds Bewegten angekommen.
Im Ferngespräch vermittelt sie auch diese Gelassenheit der Zufriedenen, lacht sehr vIel und befreit. Das ist nicht die ständig alles hinterfragende Sophie Hunger, die auch das dünnste Haar in der intellektuellen Suppe sucht. Das Erzählen vom Prozess auf dem Weg zum Album und der Zeit im Studio ist eine glückliche Rückschau, denn die Aufnahmen im legendären Londoner Abbey Road-Studio fanden bereits im Sommer des vergangenen Jahres statt. Wegen Corona verzögerte sich die Veröffentlichung, und Tourpläne mussten auf Halde gelegt werden. Den Frust über die aktuelle Situation lässt sich die Sängerin kaum anmerken. Als Komponistin von Filmmusik ist sie immer gefragt, die höchst sympathische und geöffnete Weltfrau.
Das neue Album wurde im Studio an einem Stück eingespielt. Was macht das anders?
SOPHIE HUNGER: Zunächst stellte ich die Band aus großartigen Musikern und früheren Weggefährten zusammen, dann probten wir in London fünf Tage die in meinem kleinen Kreuzberger Küchen-Studio entstandenen Demo-Aufnahmen ein und spielten die Songs im Windmill, einem Londoner Liveclub, einmalig auch vor Publikum.
Was war bei den zweitägigen Aufnahmen im Studio so ungewöhnlich?
SOPHIE HUNGER: Es gab nachträglich keinerlei Korrekturen am Aufnahmematerial. Volles Risiko. Wir haben die Vorteile eines Studios und die sonst übliche Tüftelei nach dem Aufnahmeprozess, durch unseren Plan sozusagen bewusst ad absurdum geführt. Ich musste mich auf meine fünf Mitmusiker also absolut verlassen können. Da war ein hohes Maß an Konzentration gefragt. Vor jedem der sechs Durchgänge reichten wir uns im Kreis zusammenstehend die Hände wie Fußballer in der Champions League, mit unserem Schlachtruf „Focus and Compassion“ auf den Lippen. Also: Konzentration und Mitgefühl. Dann ging es hinein in den Tunnel.
Haben Sie bewusst das legendäre Abbey Road Studio für diese Aufnahmen gewählt?
SOPHIE HUNGER: Wenn wir uns selbst schon so viele Steine in den Weg legten und so viel Druck machten, sollte das im besten Studio passieren, das wir kennen. Das Studio 2 bot die passende Atmosphäre – und viel Raum, beste Technik und das Wissen, dass hier auch die Beatles all ihre Alben aufgenommen haben.
Warum haben Sie das Stück „Liquid Air“ als Opener für das Album ausgewählt?
SOPHIE HUNGER: Mir war schon weit vor den Aufnahmen klar, dass „Liquid Air“ die flüssige Pforte für das Album sein würde. Wie durch ein Hologramm begibt man sich auf den Weg von der faktischen in eine imaginäre Welt.
Hinein in ein Album, auf dem Sie nicht nur Englisch, sondern auch wieder in Deutsch singen.
SOPHIE HUNGER: Das passiert meist sehr intuitiv, und nicht nur, um der anglophonen Popkultur die Stirn zu bieten. Das liegt an den Gedankenfetzen und Worten, die man mit sich herumträgt und knetet. Das Wort Halluzination beispielsweise fühlt sich im Mund so schön an, wenn man es auf Deutsch ausspricht. Es spricht sich ein wenig schwierig, verspricht aber Zauberei.
Im Song „Maria Magdalena“ fühlen Sie sich in eine Berliner Prostituierte hinein, die in der Nähe Ihrer Wohnung arbeitet. In „Liquid Air“ besuchen Sie mit den Hörern eine illegale Austernbar. Spiegeln Sie in den Stücken Ihr Leben?
SOPHIE HUNGER: Ich werde immer extrem von dem beeinflusst, das mich umgibt. Ich war ein paar Wochen in Zürich und habe dort nach vielen Jahren meine alten Alliierten getroffen. Wie früher saßen wir mit der akustischen Gitarre am Zürisee. Danach entstanden in den folgenden Wochen schweizerdeutsche Folksongs, wie auf meinem ersten Album.
Die beiden Stücke „Rote Beeten aus Arsen“ und „Everything is Good“ sind in der Mitte des Albums ein Epizentrum der Zerrissenheit – eine Anklage und ein Feel-Good-Song.
SOPHIE HUNGER: Es sind Bilder von zwei oppositionellen Wesenszügen. Auf der einen Seite die deutsche Frau, die ich in „Rote Beeten“ besinge und die von der Vernunft und dem blinden Glauben an das Rationale geleitet ist und bisweilen Entscheidungen mit einem kühlen Herzen trifft. Daneben gibt es aber auch die lateinische Kultur der Westschweiz, bei der es immer um Wärme und Sinnlichkeit mit einem Hang zum irrationalen Handeln geht. Das hat mich beschäftigt, denn es sind die beiden Gewalten in mir, die oftmals miteinander kämpfen.
Was bewegt Sie in „Finde mich“?
SOPHIE HUNGER: Es geht hier zwar vordergründig um die Helvetia, eine Frau, die für die Eidgenossenschaft steht, aber vor allem um die Kraft der Frauen. Der nationale Frauenstreik in der Schweiz im vergangenen Jahr war für mich ein Schlüsselerlebnis und hat sehr viel in mir ausgelöst. So viele tausende Frauen zu sehen, das war visuell überwältigend. Die Vorstellung, was wir alles verändern könnten, wenn wir Frauen zusammenstehen würden, lässt mich seither nicht mehr los. Wir müssten uns nur finden wollen.
Sie emanzipieren sich immer mehr auch als Gitarristin.
SOPHIE HUNGER: Ich glaube, ich habe einen ganz eigenen Stil. Diese kraftstrotzenden, selbstherrlichen Soli, die vor lauter Klischees tropfen, fand ich schon immer ein bisschen albern. Soli sind ja im Grunde genommen organisierte Prahlerei, oder nicht? Der Vorwurf des Machismo wird gerade beim inbrünstigen E-Gitarren-Solo sehr greifbar. Darum versuche ich das, wenn ich an der Gitarre soliere, ein bisschen zu karikieren. Bei „Alpha Venom”, in dem es um das Gift der Alpha-Kultur geht, ist das durchaus auch ein Kommentar auf’s Patriarchat. Aber das Solo an sich soll natürlich viel cooler sein, als alle Männer-Soli. Den Anspruch am Ende zu gewinnen, habe ich durchaus.
Wie wichtig war Ihnen der Zusammenhang zwischen der Einsamkeit und Imagination?
SOPHIE HUNGER: Wenn ich an einem Album arbeite, dann bewege ich mich durch all diese Halluzinationen, kaleidoskopischen Visionen und meine ganz eigenen Seifenblasen, bin abgeschottet in meiner eigenen Welt und beschäftige mich auch mit der Fremden in mir. Vielleicht muss man den Teufel erst an die Wand malen, um sich von ihm befreien und ihn verbannen zu können. Mir gelingt das bisweilen in meinen Liedern. Die letzte Note und das letzte Wort des Albums mussten allerdings positiv sein: „Hope“ – man hat den Teufel abgelegt, jetzt geht man durch eine neue Tür in ein neues Morgen, die Halluzinationen lässt man hinter sich, man hat sie überwunden.
Sie haben die Veröffentlichung des Albums wegen Corona vom Frühjahr in den August verschoben, an richtige Konzerte ist derzeit schwer zu denken. Wie geht es Ihnen damit?
SOPHIE HUNGER: Ich arbeite ja auch an Soundtracks für Film und Fernsehen. Corona setzt mir also nicht so sehr zu wie den Künstlerinnen, die ausschliesslich von Konzerten leben. Und ich kann natürlich weiterhin neue Musik schreiben. Ich würde fraglos sehr gerne wieder live spielen, aber das lässt sich aktuell nicht absehen. Das ist umso schlimmer, da Musikerinnen und Musiker inzwischen fast ausschließlich von Konzerten und Merchandising leben.
Sollte und müsste sich an dieser Situation etwas ändern?
SOPHIE HUNGER: Nun zeigt sich, dass man den Streaming-Anbietern niemals das Feld hätte kampflos überlassen dürfen. Damals dachte man: Klar, Streaming ist ausbeuterisch, aber wir haben ja noch die Konzerte. Jetzt, wo Liveshows unmöglich geworden sind, zeigt sich das ganze Ausmaß. Alle Einnahmequellen sind nahezu komplett weggebrochen, da diejenigen, die die Musik herstellen, kaum etwas am Streaming verdienen. Jetzt müsste man Druck aufbauen, damit die Streamingdienste neuen Konditionen zustimmen. Dafür müssten aber die großen Stars im Business aufstehen und mit dem Ausstieg aus den Verträgen drohen. Oder wir müssen ein wenig marxistisch denken und einen eigenen, gerechten Streaming-Dienst der Künstler aufziehen, der garantiert, dass diejenigen, die den Inhalt herstellen und finanzieren, auch den Ertrag haben. Es wäre also gut, wenn das Thema einige Politiker auf ihre Agenda schreiben würden.
Die vielfach talentierte Sophie Hunger
Sophie Hunger, mit bürgerlichem Namen Emilie Jeanne-Sophie Welti, stammt aus Bern und ist Sängerin, Songwriterin, Komponistin von Filmmusik und Schauspielerin. Die 37-Jährige wuchs in der Schweiz, London und Bonn auf und veröffentlichte vor „Halluzinationen“ (Caroline International) insgesamt sechs Alben, spielte erfolgreich europaweite Tourneen und trat unter anderem bei den Festivals in Montreux oder Glastonbury auf. Als Autorin schrieb sie unter anderem Kolumnen für „Die Zeit“, in Filmen wie „Der Freund“ und „The Rules of Fire“ zeigte sie ihr Schauspieltalent. Höchst erfolgreich ist sie als Komponistin von Filmmusik. Der Preis für die beste Spielfilm-Musik wurde ihr im September 2016 in Frankreich vom Festival für Filmmusik „Des Notes et des Toiles“ für „Mein Leben als Zucchini“ (Ma vie de courgette) zugesprochen. Nominiert war sie mit der Musik dieses mehrfach preisgekrönten Animationsfilms unter anderem für den César 2017 und den Schweizer Filmpreis 2017. Weitere Infos auf der Homepage der Künstlerin unter www.sophiehunger.com. udo
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